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Wie kann die Verkehrswende gelingen? - Tarifreform macht ÖPNV in der Region viel günstiger

Zahlreiche Fachleute in Sachen ÖPNV kamen auf Einladung der Grünen jetzt im Umweltzentrum Schwarzwald-Baar-Neckar auf der Schwenninger Möglingshöhe zusammen, um sich der Frage anzunehmen, wie die Verkehrswende in der Region gelingen und die das Ziel der Landesregierung erreicht werden kann, die Fahrgastzahlen im ÖPNV bis 2030 zu verdoppeln.

Die Verkehrsexpertin des Landtags: Silke Gericke

Matthias Lieb ist Vorsitzender des VCD in Baden-Württemberg

SBK-Kreisrätin Maren Ott moderierte den Abend.

 

Organisiert hatte den Abend die drei Kreistagsfraktionen von Rottweil, Tuttlingen und dem Schwarzwald-Baar-Kreis. Diese drei Landkreise werden im kommenden Jahr einen Tarifverbund eingehen, so dass man in der ganzen Region mit den gleichen Tarifen Bus und Bahn fahren kann. Der Abend drehte sich aber auch um die Frage, wie gerade abgelegene ländliche Regionen erreicht werden können, wo immer wieder beobachtet wird, dass Busse außerhalb der Schülerfahrten leer fahren.

 

Expertin dafür ist die Landtagsabgeordnete Martina Braun aus dem Linachtal bei Furtwangen. Silke Gericke ist ebenfalls Landtagsabgeordnete und arbeitet mit Martina Braun im Verkehrsausschuss des Landtags. Dr. Martin Schiefelbusch vertrat die Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg, Matthias Lieb ist Vorsitzender des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) in Baden-Württemberg, Rolf Schwenk hat in den Landkreisen Rottweil und Tuttlingen im Bereich ÖPNV gearbeitet und sitzt für die Grünen in der Regionalverbandsversammlung, und Johannes Deyringer ist Mitarbeiter der Hochschule Furtwangen, wo das Thema Nahverkehr im ländlichen Raum  erforscht wird.

 

Rolf Schwenk erläuterte den zahlreichen Besuchern die komplexen Zusammenhänge: Einerseits gibt der Bund dem Land jedes Jahr gut eine Milliarde Euro für den Bahn-Nahverkehr, verlangt andererseits Trassen- und Stationsgebühren, durch die ein guter Teil des Geldes wieder nach Berlin zurück fließt. Eine Gesetzesgrundlage, die Bund, Land oder Kommunen dazu verpflichtet, ÖPNV bereitzustellen, gibt es nicht, „wenn eine Stadt kein Geld hat, wird hier gekürzt.“ Zudem stamme das Personenförderungsgesetz aus den 1930er-Jahren, als die Reichsbahn noch das Monopol der Personenbeförderung hatte, aber erste Buslinien ihr Konkurrenz machten.

 

Die ÖPNV-Kosten im Landkreis Tuttlingen hatte Hans-Martin Schwarz, Kreistagsmitglied, mitgebracht: Ein Defizit von sechs Millionen bringt der Nahverkehr hier jährlich, „wir Grünen sagen nicht gerne ‚Defizit‘,“ seine OGL-Fraktion bestehe darauf, die Preise nicht zu erhöhen, immerhin buttere der Kreis wesentlich mehr Geld in Straßenunterhalt, „und das ist selbstverständlich!“

 

Die Tarifreform stellte Maren Ott vor: Derzeit gibt es in der Region 26 verschiedene Tarifzonen, durch die Reform dann nur noch acht, „das ist ein Riesenschritt und eine gute Nachricht!“ Ab nächstem Jahr kann man also mit einer Netzkarte in der ganzen Region Bus und Bahn nutzen, ein Jahresabo wird 487 Euro kosten, für Schüler 365 Euro. Zum Vergleich: Bislang kostet das Jahresabo alleine im Schwarzwald-Baar-Kreis 982 Euro.

 

Die Tücken des Bahnverkehrs hatte Matthias Lieb am eigenen Leib zu spüren bekommen, sein Zug auf der Gäubahn konnte in Stuttgart wegen Überfüllung nicht pünktlich losfahren, er kam schließlich gerade rechtzeitig zum Beginn der Veranstaltung an. Das 9-Euro-Ticket hat, so der VCD-Vorsitzende, für eine 42 Prozent höhere Auslastung der Busse und Bahnen gesorgt. Im ländlichen Raum sind es vor allem die Schüler, die den ÖPNV nutzen, der Rest fährt lieber Auto. Im Schwarzwald-Baar-Kreis kommen, zählt man jeden Einwohner ab 18 Jahren, auf 1000 Einwohner 760 Autos. Nimmt man die Krafträder dazu, sind es noch mehr. „Die Bürger geben viel Geld für individuelle Mobilität aus“, so Lieb. Gute Beispiele für die Verkehrswende findet man in Vorarlberg oder Wien, wo zunächst das ÖPNV-Angebot kräftig aus- und Parkplätze abgebaut wurden, dann das 365 Euro-Ticket kam. „Das wurde gut angenommen!“ Lieb betonte: Wenn das Angebot gut ist, ist der Preis nicht so wichtig, aber günstige Tageskarten für Gruppen und Familien, die sind wichtig.

 

Aus Konstanz war Markus Tittelbach gekommen, der Physiker ist Berater in der Produktentwicklung für Mobilitätsanbieter in Konstanz. Er kritisierte die einseitige Förderung: Für die Nutzung der Bahntrassen erhebe der Bund Gebühren, für die der Straßen nicht. Diesel und E-Fahrzeuge, auch die hybriden, die kaum mit Strom fahren, würden gefördert, „und E-Autos sind hauptsächlich was für sozial Starke.“ 149 Milliarden Euro koste der Straßenverkehr, alleine 60 Milliarden entstünden durch Unfälle und die Folgen der Luftschadstoffe. Die Verkehrswende mit einem Fünftel weniger KfZ-Verkehr könnte den CO2-Ausstoß um 55 Prozent reduzieren, so Tittelbach. Er plädierte für eine Mobilitätsgarantie mit guten Angeboten, bezahlbar für alle,  finanziell besser ausgestattet zum Beispiel auch durch eine Nahverkehrsabgabe.

 

„Mit der ÖPNV Strategie 2030 haben wir im Land viel vor, um den ÖPNV weiter auszubauen und die Fahrgastzahlen im öffentlichen Verkehr bis 2030 zu verdoppeln und  somit die Klimaschutzziele im Verkehrssektor zu erreichen“, sagte Silke Gericke, die verkehrspolitische Sprecherin der Grünen Landtagsfraktion. Die Landesregierung hat durch einen breit angelegten Dialogprozess der ÖPNV-Zukunftskommission Ziele und Maßnahmen in allen relevanten Handlungsfeldern des öffentlichen Verkehrs im Land entwickelt.

 

„Wir müssen den ÖPNV weiter ausbauen und zuverlässiger machen. Zudem soll das Image des ÖPNV weiter gesteigert werden, während gleichzeitig attraktive, verständliche und faire Tarife angeboten werden. Das Land tut viel und kommt seinen Pflichten nach, jetzt muss der Bund die Regionalisierungsmittel weiter erhöhen, um den Ausbau des ÖPNV voranzutreiben. Das 9 Euro-Ticket zeigt gut, dass die Nachfrage im ÖPNV vorhanden ist, wir jedoch den Ausbau der Infrastruktur benötigen. Dafür brauchen wir auch eine Erhöhung der Regionalisierungsmittel vom Bund, für die wir uns als Landesregierung einsetzten“. ergänzte Gericke.

 

Wie sehr der Klimawandel, die aktuelle Dürre jetzt schon zu schaffen macht, das erzählte Martina Braun: „Unsre Tiere haben keine Weiden mehr!“ Sie setze sich für gemeinschaftlich genutzte Fahrzeuge, für Lastenräder ein, für Carsharing, hier seien die Stadtwerke gefragt. Das private Auto werde durchschnittlich nur eine Stunde am Tag genutzt, und nehme die restliche Zeit Platz in den Städten weg. Mit einer höheren ÖPNV-Dichte, einem einfachen Umgang mit gemeinschaftlich genutzten Fahrzeugen könne man erreichen, dass die Menschen auf dem Land wenigstens auf den Zweit- und Drittwagen verzichteten.

 

Was hier möglich ist, zeigte Dr. Martin Schiefelbusch auf: Rufbusse, Sammeltaxis beispielsweise. Der erste Rufbus im Land fuhr übrigens bereits 1977 in Friedrichshafen, damals als Projekt, um die neuen Computer auf ihre Kompatibilität zu testen. Hans-Martin Schwarz zeigte dann die Probleme auf, die ein Landkreis wie Tuttlingen mit seinen 35 Kreisgemeinden hat: allein die Stadt Tuttlingen hat täglich 15.000 Einpendler, Rietheim-Weilheim verfügt über mehr Arbeitsplätze als Einwohner. Ein Jobticket gibt es bereits, das wird auch gut genutzt, immerhin: Der größte Arbeitgeber Tuttlingens ist Aesculap, und der liegt direkt am Bahnhof.

 

Dass es Kreativität braucht, um den ÖPNV voranzubringen, zeigte Johannes Deyringer: Die Hochschule Furtwangen hat eine App entwickelt, mit der sie herausfindet, wie genau die Nutzer von wo nach wo unterwegs sind. „Die Mikromobilität ist interessant für den ländlichen Raum.“ Zu der auch eine Bus-Taxi-Mischung gehört, mit der Kinder zu den Angeboten der Vereine kutschiert werden, und das Taxito aus der Schweiz, bei dem sich an bestimmten Stellen spontane Fahrgemeinschaften bilden.
 

Mehrere Fragerunden zeigte, wie sehr das Thema den Menschen auf den Nägeln brennt. Für die Referent*innen hatte Maren Ott ein kleines, aber feines Geschenk besorgt: Jeder bekam ein 9-Euro-Ticket für den August.

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